*1927 „Ich glaube, dass unser Singen die Härte unserer Ängste und Sorgen mildern konnte.“
Es war in den Wintermonaten 1944/45, den letzten Monaten des Krieges. Es war in der dunkelsten Zeit.
Ich war im Oktober 1944 zum Arbeitsdienst einberufen worden. Zuvor hatten wir die Prüfungen zum Notabitur abgelegt und in einer ganz bescheidenen aber sehr herzlichen Feier Abschied von unseren Klassenkameradinnen und unserem Klassenlehrer genommen. Der Abschied fiel uns allen schwer, denn wir waren durch die Verhältnisse vor dem Ende des Krieges enger miteinander verbunden als es wohl sonst der Fall ist. (Unsere Schule war abgebrannt, die Frau und die Kinder unseres Klassenlehrers waren wegen der Bombenangriffe evakuiert, so fand unser Unterricht in der noch weitgehend heilen Wohnung unseres Klassenlehrers statt.) Ich war die erste unserer Klasse, die zum Arbeitsdienst eingezogen wurde. Am Abend zuvor war unsere kleine Abschiedsfeier, am nächsten Tag sollten wir nach Hainichen, einem kleinen Ort zwischen Glauchau und Meerane1. Unser Arbeitsdienstlager war nicht in Baracken untergebracht, sondern in dem sehr schönen Herrenhaus des Rittergutes Hainichen. Im Erdgeschoss des Hauses war eine großzügige Diele, von der man zum Speisesaal, zur Küche und zu weiteren Räumen kam. Den Blick beherrschte aber eine breite Eichentreppe zu einem Treppenabsatz, der durch ein großes buntes Glasfenster geschmückt war, bevor sie zu den oberen Räumen – einem Festsaal und verschiedenen Schlafräumen führte.
In diesen Tagen und Wochen wurde die Kriegslage immer bedrohlicher. Die Russen rückten vor und so wurde ein Arbeitsdienst-Mädchenlager aus der Nähe von Breslau/Schlesien tz uns verlegt. Wir machten für sie in den Schlafsälen unsere Betten zurecht und für uns im großen Festsaal ein Strohlager für die Nacht. Dieser Raum hatte vier nebeneinander liegende sehr hohe, große Fenster. Von dort aus sah man weit in die Landschaft, die ganz allmählich anstieg. In der Mitte der Horizonlinie stand nur ein einzelner sehr großer Baum, dessen mächtiges Gezweig damals zu Winterzeit wie ein großes kunstvolles filigranes Geflecht, anzusehen war.
Es war eine Vollmondnacht. Die meisten von uns fanden keinen Schlaf vor Sorge um die Ihren, die Väter und Brüder an der Front und unsere Mütter und Geschwister, die den Bombenangriffen und den vielen Schwierigkeiten der letzten Kriegswochen ausgesetzt waren. Wir lagen auf Stroh in einem Raum, der einmal für frohe und große Festlichkeiten gedacht war, sahen hinaus in die mondhelle Winternacht und wohl jede von uns ging ihren Gedanken, Sorgen und Ängsten nach. Auf einmal begann eine von uns mit leiser Stimme zu singen „Der Mond ist aufgegangen…“ Nach und nach stimmten alle ein, wir sangen die halbe Nacht.
Ich glaube, dass unser Singen die Härte unserer Ängste und Sorgen mildern konnte.
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1 Meerane ist seit 1990 eine Partnerstadt von Lörrach
- *1923 „Ich bin ein vorsichtiger Mensch, ich kontrollier’ alles.“
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