Frau Schmidtchen

Sie lebt schon lang in der Seniorenresidenz “Sonnenschein”, vielleicht schon 10 Jahre. Sie ist ja auch schon über 90. Sie hat ein schönes Zimmer im Erdgeschoss, deshalb nicht gerade sonnendurchflutet sondern eher dunkel. Es ist auch nach hinten gelegen, Nordseite. Da ist es nämlich billiger, meint die große Verwandtschaft von Frau Schmidtchen, die manchmal samstags oder sonntags kommt und Frau Schmidtchen ins Auto packt, sie vorn, Rollator hinten.

Sie wohnt auf Zimmer 133, da sind ihre Möbel, ihre Bilder. Das alles fällt  nicht als das ihrige auf, es sind einfach die Möbel einer Frau, die vor Hitlers Machtergreifung schon auf der Erde war.

Es ist also ein Nordzimmer, und deshalb sitzen in den dunklen Ecken die Geister der alten Zeiten: der alte Gefreite, das Sonnenpüppchen, der große Geldschein mit den Schlotterbeinen, der schöne Mann, der vor Jahrzehnten der Ihrige war und viele kleine undefinierbare Schatten, die Name und Aussehen ständig wechseln.

Keiner  kennt die Geister, nur sie. Blöd, dumm, blind – sind sie doch alle vom Pflegedienst, nichts sehen sie, aber rein gar nichts.

Sie will eigentlich nicht mehr in diese Wohnung.

Deshalb steht sie immer im Gang, mal mit mal ohne Rollator. Mal angezogen, mal im Nachthemd.

Gleich nach dem Frühstück zieht sie ihre Runden. Sie geht wie eine Maschine, schiebt ihren Rollator vor sich her, unermüdlich, vom Lift zum Speisesaal, raus in die Sonne, den Gehweg entlang immer voran, bis man ihr die Lernschwester hinterherschickt, sie einzufangen. Ihr Gesicht wird immer härter, sie ist verärgert, alles wirkt ihr entgegen: die vielen fremden Leute, die sich in den dunklen Ecken ihres Zimmers verstecken, die gehetzten Pfleger und Pflegerinnen, die hilfsbereiten Besucherinnen mit den Plastiktüten voller Besorgungen für ihre Angehörigen.

Ihre Fragen versteht niemand, und sie versteht nicht die Antworten. Dann steht sie lange vor der Rezeption düster vor sich hinblickend: “Ich weiß doch nicht, was das soll!”

An einem dunklen Winternachmittag steht sie mal wieder, dieses mal ohne Rollator, dafür im Nachthemd vor der Rezeption, aber der Schalter ist schon geschlossen. Die letzten Bewohnerinnen sammeln ihre Siebensachen ein und machen auch Schluss für diesen Tag.

Sie sehen Frau Schmidtchen wie schon so oft mit grimmiger Miene total verärgert da stehen.

Frau Helfer spricht sie an, mit beruhigender Stimme redet sie auf das Schmidtchen ein, die andere Dame sagt:“Ich hole die Schwester!“ Frau Helfer setzt sich mit der verärgert verwirrten alten Nachthemddame auf die Bank in der Rezeption, sie warten.

Frau Helfer kommt vom Kartenspielen, sie hat sich ein Apfelsaftschorle bestellt und nur halb getrunken. Beim Warten auf die Schwester kommt ihr der Durst, sie setzt das Fläschchen an den Mund und leert es mit einem langen Zug. Da wacht das Schmidtchen auf und guckt sie frech an: „Sie sind ja ein Säufer!“  Lacht frech, hat Schalk in den Augen, grinst mit zahnlosem Mund, aus dem nur links und rechts ein Goldstümpchen blinkt, denn die Zähne liegen im Glas auf dem Nachttisch. Sie kichert und gackert: “So sagt man doch, jetzt war ich aber richtig frech…”

fest

 

 

 

 

 

 

 

    Endlich kommt  die Schwester.

 

 

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