Der Mundharmonika-Spieler *1927
Am 1. September 1939 ist der zweite Weltkrieg ausgebrochen. Die Gemeinden Weil, Binzen, Haltingen und Fischingen wurden evakuiert, also alle, die direkt am Rhein gewohnt haben. Meine Mutter, meine zwei Brüder und ich wurden auch evakuiert, meine Mutter war 36, mein Bruder Edgar 6 Jahre und Max erst 3 Monate alt.
Mein Vater blieb in Weil, er war nämlich in der Hoffmann-LaRoche in Rheinfelden, das war ein kriegswichtiger Betrieb.
Zuerst kamen wir nach Herten ins Sammellager, jetzt weiß ich nicht mehr, ob das mit dem Bus oder dem Zug war, aber dann kamen wir nach Engen bei Singen im Hegau, wo wir 6 Wochen blieben. Dort sagten die Leute “Westwallzigeuner” zu uns und dann gings weiter nach Oberstdorf im Allgäu, das war mit dem Zug. Es ging sofort weiter ins Kleine Walsertal, wo wir auf Familien verteilt wurden. 10 Wochen lang sind wir dort geblieben,und zwar in Riezlern. Da fingen schon die Vorbereitungen für Weihnachten an, so mit Kuchen und Brödle machen. Am 22. Dezember hieß es dann plötzlich, alles hat sich am Rathaus von Riezlern einzufinden, es würde jetzt ein Transport nach Hause zusammengestellt. Wir haben uns alle sehr gefreut, dass es jetzt wieder heimgehen sollte. Der Zug wurde also in Oberstdorf vorschriftsmäßig zusammengestellt: Vorne gleich nach der Lokomotive kamen die 6 Gepäckwagen und dann die Personenwagen.
Zuerst ging’s von Oberstdorf nach Lindau, das ist ja ein Sackbahnhof, deshalb haben sie dort den Zug wieder umgestellt, die Lok ist um den Zug herumgefahren und wurde auf der anderen Seite wieder angehängt, deshalb waren wir jetzt ganz vorn im Zug, im ersten Wagen gleich nach der Lok. Dann ging es nach Friedrichshafen, dort wurden wir vom Roten Kreuz verpflegt. Wir bekamen alle belegte Brote und Tee. Und das war so schrecklich, man hat später noch in den Mündern der toten Kinder das Brot gesehen.
Plötzlich hieß es, der Transport geht weiter, planmäßig hätte der Zug um 22 h weiterfahren müssen, denn die Strecke ist ja nur eingleisig und bei Markdorf war die Kreuzung mit einem anderen Zug vorgesehen.
Der Bahnhofsvorstand von Markdorf hat den Zug angenommen, was aber nicht richtig war wegen der Verspätung. Von Überlingen wurde auch ein Zug gemeldet und der Bahnhofvorstand von Markdorf gibt dem Zug im Halbschlaf auch die Durchfahrt. Er hatte nämlich 24 Stunden Dienst und war eingeschlafen. Als das Telefon klingelte, war er erschrocken aufgewacht und hat im Halbschlaf die Genehmigung für den Zug gegeben.
Von Überlingen nach Markdorf war es ja gar nicht weit.
Draußen war dichter Nebel, plötzlich hört der Bahnhofsvorstand draußen Geräusche, da erschrickt er furchtbar und es fällt ihm der Flüchtlingszug ein, doch er kann nichts mehr machen, er kann den Zug nicht mehr aufhalten.
Der Flüchtlingszug fährt auch auf die Kreuzung zu, das ist eine lange Linkskurve und der Heizer sieht die Lichter vom Güterzug auf sich zukommen und ruft dem Lokführer zu: “Da kommt ja ein Zug!“
Der hat Schnellbremse eingelegt, aber es hat nichts mehr genützt.
Wir Kinder waren auf der Plattform gleich hinter der Lok, bei dem Nebel war das ja so romantisch. Dann hat uns ein Mann reingerufen und mit uns geschimpft: „Was macht ihr da draußen“! Wir gingen ganz brav rein, durch den Krieg war alles verdunkelt, da saß meine Mutter, auf ihrem Schoß war mein kleiner Bruder Max und neben dran auf der Bank der etwas größere Edgar. Ich wollte aber nach draußen schauen und kroch unter den Verdunkelungsvorhang, da kam der Aufprall.
Ich wurde aus dem Fenster nach draußen geschleudert, das war meine Rettung.
Um 22h40 hat man mich gefunden und gleich ins Krankenhaus gebracht, ich war schwer verletzt. Ich war auch lange bewusstlos.
Auf dem gleichen Zimmer war der Heizer, sein ganzer Körper war verbrüht, die Haut wurde schwarz, nach 4 bis 5 Wochen hat der Körper das Gewebe abgestoßen, er hat oft geschrien vor Schmerzen, dann hat man ihn in ein Wannenbad gelegt.
Ich habe ja alles mitbekommen, die ganzen Erzählungen und so. Von der Bahndirektion kamen im Abstand von ein paar Wochen immer wieder Delegationen und haben den Heizer ausgefragt. Aber er konnte nicht mehr erzählen, als das, was er gesehen hat, und der Bahnvorstand war ja 24 Stunden im Dienst, trotzdem kam er später ins Gefängnis.
Ich war vier Monate im Krankenhaus, weil ich ja eine sehr schwere Gehirnerschütterung hatte und einen schweren Oberschenkelbruch und sehr lang bewusstlos war.
Der Gauleiter hat uns auch besucht, er ist mit den Ehemännern gekommen von den Familien, die umgekommen sind, so auch mit meinem Vater, das habe ich gemerkt, weil ich den Dialekt gehört habe.
Man durfte mir nicht mitteilen, dass meine Mutter und meine zwei Brüder tot waren, ich habe immer wieder nach meiner Mutti und nach Edgar und Max gefragt.
Erst als ich entlassen wurde und mein Vater und ich auf dem Heimweg waren, hat er mir gesagt, dass die anderen alle tot waren.
Als wir zu Hause waren, hat mein Vater mich nach der Kleidung meiner Brüder gefragt. Er wollte wissen, was sie anhatten. Man konnte die Kinder gar nicht identifizieren, so verstümmelt und verbrannt waren sie. Und so hatte man meinen kleinen Bruder in Weil beerdigt, obwohl wir doch aus Binzen sind. Erst als ich meinem Vater sagen konnte, was meine Brüder für Kleider angehabt haben, hat man gewusst, wer sie waren. Dann hat man die beiden Kinder umgebettet.
- Die Spaziergängerin *1922
- Die Sportsfreundin *1934